Oppidum: Das Ende keltischer Wanderungen

Oppidum: Das Ende keltischer Wanderungen
Oppidum: Das Ende keltischer Wanderungen
 
Übervölkerung und innere Zwietracht, dazu die materiellen Verlockungen der Mittelmeerwelt - darin sahen die antiken Geschichtsschreiber die Hauptursachen der großen Wanderungen, welche die Kelten nach Italien und über Griechenland bis nach Kleinasien führten. Gestützt auf Bodenfunde und eine quellenkritische Analyse der Schriftzeugnisse zeichnen moderne Historiker heute ein sehr viel differenzierteres Bild jener Wanderzüge, doch gelten das 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. nach wie vor als die Zeit, in der die keltischen Stämme des europäischen Festlands ihre größte Ausdehnung und Machtentfaltung erreichten. Schon um 387 v. Chr. hatten Kelten aus Oberitalien auf ihrem Zug nach Süden den Römern an der Allia (einem Nebenfluss des Tibers) eine empfindliche Niederlage beigebracht. Rom wurde geplündert und eingeäschert, die letzten Verteidiger auf dem Kapitol eingeschlossen. Um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. drangen Kelten auf den Balkan vor, wo Alexander der Große auf seinem Durchmarsch 335 v. Chr. keltische Gesandte empfing. Zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. eroberten die Römer einen Teil des keltischen Siedlungsgebiets in Oberitalien zurück. Schon wenig später setzten sich jedoch keltische Heere balkanabwärts in Bewegung, bedrohten 279 v. Chr. Delphi und setzten im darauf folgenden Jahr über den Hellespont nach Kleinasien über. Erst mit den römischen Siegen über die keltischen Insubrer 225 v. Chr. bei Telamon und über die Boier 193 v. Chr. bei Mutina begann der politische Niedergang der Kelten Mitteleuropas, der um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. durch die römische Eroberung Galliens besiegelt wurde.
 
Gleichwohl wäre es verfehlt, die beiden letzten Jahrhunderte v. Chr. insgesamt als eine Zeit des Niedergangs der festlandkeltischen Kultur zu sehen. Vielmehr vollzog sich in dieser Zeit ein tief greifender Strukturwandel, der in gleicher Weise die Gesellschaftsordnung, die Wirtschafts- und Siedlungsformen und die Religion erfasste. Bezeichnend für den gesellschaftlichen Wandel ist die Ablösung des traditionellen Königtums durch eine Adelsherrschaft, wodurch sich bedeutende Teile Galliens zur Zeit Caesars etwa vom frühmittelalterlichen Irland grundlegend unterschieden. Den Wandel religiöser Riten charakterisiert vielleicht am besten der Übergang von der Körper- zur Brandbestattung, wie er in archäologischen Funden und der Beschreibung keltischer Bestattungsbräuche durch Caesar zum Ausdruck kommt.
 
Das eindrucksvollste und vielleicht markanteste Kennzeichen dieser Spätphase festlandkeltischer Kultur sind indessen die Oppida (Einzahl: Oppidum). So bezeichnet besonders die angelsächsische und deutschsprachige Archäologie die stadtähnlichen Anlagen der späten La-Tène-Zeit, deren Erforschung eine Hauptquelle für unsere Kenntnis der materiellen keltischen Kultur jener Zeit darstellt. Ebenso wie die Fürstensitze der späten Hallstattzeit wurden auch die Oppida zumeist auf Höhenzügen, in Flussschleifen oder in ähnlich geschützter Lage angelegt. Sie unterscheiden sich jedoch von Anlagen früherer und späterer Jahrhunderte durch ihre Ausdehnung, die in einigen Fällen mehrere Hundert Hektar beträgt. Durch Mauern und Tore befestigt, dienten die Oppida in Kriegszeiten als Fluchtburgen für die Bevölkerung des Umlands und im Frieden als Handwerkszentren und Umschlagplätze für den Handel. Bei der Wahl des Standorts spielte daher in vielen Fällen neben einer strategisch günstigen Lage auch das Vorkommen von Bodenschätzen eine Rolle. Vorbilder für die Oppida waren vermutlich die stadtartigen Siedlungen der Mittelmeerländer, mit denen die Kelten im 4.-3. Jahrhundert v. Chr. bekannt geworden waren.
 
Seit 1865 von Archäologen untersucht, ist Bibracte, circa 20 km westlich von Autun im Département Saône-et-Loire, eines der am besten erforschten gallischen Oppida. Es erstreckte sich auf einer Fläche von über 130 ha über vier Hügel, darunter den 822 m hohen Mont Beuvray. Eine ähnlich markante Höhenlage kennzeichnet Alesia in der Nähe von Alise-Sainte-Reine (Département Côte-d'Or), das zwischen zwei Flüssen auf dem steil abfallenden Mont Auxois angelegt war. Bekannt durch seine Belagerung während des letzten großen Aufstands der Gallier gegen Caesar, blieb Alesia im Unterschied zu Bibracte und vielen anderen Oppida auch unter römischer Herrschaft besiedelt und wurde erst im frühen Mittelalter aufgegeben. Das bekannteste Oppidum auf deutschem Boden und zugleich eines der größten Oppida überhaupt ist Manching, circa 8 km südlich von Ingolstadt, das seit 1955 planmäßig erforscht wird.
 
In welchem Verhältnis diese stadtähnlichen Anlagen zu den umliegenden bäuerlichen Siedlungen standen, ist bislang nur unzureichend erforscht. Auch über ihre administrative Funktion kann man wegen des Mangels an Schriftzeugnissen nur wenige gesicherte Aussagen treffen. Nur vereinzelt fand man in den Oppida bislang Hinweise auf Heiligtümer oder Kultstätten, wohingegen die bekanntesten Anlagen dieser Art außerhalb der befestigten Siedlungen zutage gekommen sind.
 
Dr. Bernhard Maier
 
 
Birkhan, Helmut: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur. Wien 1997.
 Duval, Paul-Marie: Die Kelten. Aus dem Französischen. München 1978.
 Lessing, Erich und Kruta, Venceslas: Die Kelten. Entwicklung und Geschichte einer europäischen Kultur in Bildern. Freiburg im Breisgau 1979.

Universal-Lexikon. 2012.

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